Fährten oder die Fortsetzung der Worte im Bild
von Gunther Neumann http://www.gunther-neumann.com
Bilder dominieren unsere Wahrnehmung einer Welt, die von digitalen Medien scheinbar um- und erschlossen ist. Kein Fleck, den wir uns nicht durch Google Earth heranzoomen könnten. Blitzlichtsequenzen flimmern fast permanent über unsere scheinbar privaten, immer größeren oder immer kleineren, portablen Screens. Wir sind längst Bilder-Junkies, werden mit Momentansichten von Krisen geflutet, inklusive aufbereiteter Erklärung aller Fakten und Hintergründe, die meist nur fragmentarische Informationen sind. Bis wir uns aus medialem Überdruss abwenden.
Wir reisen selbst, und kommen mit unserem durchdigitalisierten Erfahrungshorizont doch selten im Unbekannten an; allzu oft nur in unseren festgefügten Standpunkten. Bei aller Neugier, allem guten Willen zur Unvoreingenommenheit: Unsere Unsicherheit versucht, neue Eindrücke mit den im Kopf mitgeflogenen Bildern abzugleichen. Unsere Ungeborgenheit, meine Befangenheit giert nach Bestätigung: dass alte Erfahrungen gültig sind; dass ich auch in der Fremde jemand bin, der sich behaupten kann.
Bevor ich die ersten steifen Schritte auf einen Markt, in den halbvertrauten Konsumalltag eines fernen Landes mache, versuche ich, mich über einen guten Essay, ein Buch literarisch in das Andere einzufühlen. Wenn ich nach ersten, linkischen Begegnungen mit einheimischen Projektpartnern etwas sicherer bin, taste ich mich nach getaner Arbeit über einen heiligen Platz, über Formen künstlerischen Ausdrucks ein Stück näher an die Fremde heran. Eine bescheidene und meist gefahrlose Art, mich für das Unbekannte zu öffnen. Kunst mag eine Sprache sein, die nicht universell, aber in Ansätzen verständlich ist; oder zumindest meinen begrenzen Horizont erweitert.
In unserer Lebenswelt zwischen Hoffnung und permanenter Vergänglichkeit sind wir ohnehin nie ganz zu Hause. Und in der Fremde können wir das Eigene nicht abstreifen. Aber jede gute Literatur, Malerei ist unter einer vordergründigen Oberfläche auch eine Parabel, die tiefer führt, ist ein oft überraschender Spiegel für die Universalität menschlicher Ängste, Nöte, für das Fremde in uns selbst. Selbst manche Fotografien sind mehr als Momentaufnahmen, können wie ein Auge in die Geschichte sein.
Mikhail Evstafiev ist ein Reisender, auch in allen erwähnten künstlerischen Genres. Wörter hören auf, wo Bilder anfangen. Der Schwebezustand zwischen Objekt und Betrachter lässt sich kaum in sorgfältig gewählte Sätze fassen. Ich maße mir nicht an, Kunst mit Worten wiederzugeben, die durch das Betrachten zum Leben kommt. Also ein Versuch, mehr nicht, vielleicht nur, was sie nicht ist.
Denn fast alle Werke Mikhails scheinen sich einer Aussage zu verweigern. Sie erlauben keine begriffliche Vereinnahmung, keine Aussage darüber, ob die Welt gut ist, oder böse. Sie stellen keine Idyllen dar, erheben keinen Anspruch auf vordergründige Harmonie, lassen nicht immer einen saturiert-genießerischen Blick zu. Sie scheinen eine Subtextur, eine beunruhigende Unterströmung zu haben, die direkt in unser Unbewusstes zielt. Kunst, die nur meine Ansichten bestätigt, unser bereits vorhandenes Wissen aktiviert, ist langweilig.
Mishas früheren Stadtlandschaften waren eine Mischung von vertraut und nicht vertraut. Bei aller sonderbaren Transparenz der Hausgesichter war der Betrachter ein Staunender zwischen den Gebäuden, ein Überlebender der Nacht.
Mikhails neue Linien-Landschaften gehen weg vom Figurativen. Gekratzte Striche, Profile, Spuren, Fährten, Schneisen, Striemen durch mehrere Farbschichten wirken einmal wie ein grober Holzschnitt, dann wie von Licht und Schatten modelliert, ein anderes Mal wie Tätowierungen, die den Betrachter schmerzen. Borderlines, die vom Künstler selbst hart umkämpft waren. Sie sind ein dichtes hell-dunkel-Gewebe von Stimmungen ohne psychologische Deutung, im wahrsten Sinn des Wortes vielschichtig, wie – im besten Fall - unser Blick auf die Welt. Fragen nach der Existenz treten über Risse an die Oberfläche. Beantwortet werden sie nicht. Wer regiert? Der Mensch? Das Chaos? Die Bilder zwingen nichts auf, streben keine quasi-sakrale Absolutheit an, sind frei von ideologischen Utopien am Trittbrett einer ephemeren Aktualität ständig diskutierter Globalisierung. Gräben sind ohne sichtbaren Beginn, ohne Ende; aber keine radikalen Linien, einer imaginierten Zukunft voraus oder hinterher. Kunst ändert kaum je den Lauf der Welt. Und ist doch notwendig.
Mikhails Bilder sind keine Schachbretter rationalen Denkens, keine Chiffren, bieten keine spekulativen Botschaften, nicht einmal einen Horizont als Beruhigungslinie unserer unsicheren Erfahrung. Sie stellen unseren eigenen Blick in Frage, ohne inherenten Halt, ohne flüchtige Geborgenheit. Sie spenden keinen Trost: „Vertraue nie einem Bild,“ ist eine der wenigen Aussagen, zu denen Mikhail sich hinreißen lässt, frei nach der Dichterin Patrizia Cavalli, „seid weniger bildhaft, ihr Bilder.“ Seine Bildkompositionen sind keine trügerischen Platzhalter von Identität in einer unsicheren Welt. Sie sind dabei poetisch, abstrakt, wie Instrumentalmusik, die doch so viel wachruft.
Die Schneisen trennen nicht unbedingt; manchmal wirken sie wie Rinnsale, aus fernen Kindheitstagen. “Expressionismus ist ein Versuch, die Frische und Naivität kindlicher Sicht wiederzugewinnen; ja sogar die Sehnsucht nach der Unschuld der Kindheit,” meinte der Maler Mark Rothko, “Kunst ist ein Abenteuer in eine unbekannte Welt, die nur von jenen erkundet werden kann, die für die Risiken bereit sind.” Was sich wohl auch über das Leben schlechthin sagen lässt. Mikhail Evstafievs Bilder sind eine Einladung, sich für Minuten, oder weit mehr, darauf einzulassen.
Tracks, or the continuation of words in pictures
By Gunther Neumann
Pictures dominate our perception of the world. The globe is seemingly encompassed and made accessible through digital media. No spot that we couldn’t zoom in on with Google Earth. Photo-flashes flicker incessantly on our supposedly private, ever-bigger or ever-smaller screens. We have long been image junkies, flooded with momentary glimpses of crises and processed explanations of facts and background that most of the time turn out to be little more than fragments. Until we have to turn away in weariness.
We travel and nevertheless seldom arrive at the unknown: all too often we only confirm our established viewpoints. Despite our curiosity, despite all good intentions to be impartial, our uncertainty tries to match new impressions with the pictures we carry in our heads. Our insecurity, our inhibition make us crave confirmation - that old experiences still hold, that I am someone who can hold his ground even in strange places.
Between hope and permanent transience we are never quite at home. In a foreign land we cannot cast off the self. Any good work of literature or painting, under its ostensible surface, is also a parable that goes deeper, that is an oft-surprising mirror for the universality of human fears and woes, for the stranger in us. Even good photographs can be more than snapshots of moments. They can be like an eye into a story, into history.
The state of uncertainty between the object and the beholder can hardly be expressed in carefully chosen phrases. I do not presume to reveal art with words. Therefore this is only an attempt, nothing more; maybe only an idea of what it is not.
Mikhail Evstafiev is a traveller, also in all the above-mentioned genres. Pictures continue where words left off.. Yet Misha’s works seem to refrain from making any statement. They allow no conceptual absorption; they do not assert whether the world is good or evil. They depict no idylls, make no claim to superficial harmony; they seldom enable a self-satisfied gaze. They seem to have a subtext, a disturbing undercurrent that goes directly to our unconscious.
Misha’s earlier cityscapes were an amalgam of the familiar and the unfamiliar. The façades evinced a strange transparency, yet left the viewer awestruck between the buildings, a survivor of the night.
Misha’s new line-landscapes have moved away from the figurative. Scratched streaks, shapes, traces, tracks, swaths and striae through layers of colour appear once like a rough woodcut, then as if they were modelled from light and shadow, then like tattoos that pain the viewer: borderline experiences for which the artist himself has fought.
They are a tightly woven, light-dark web of moods without psychological explanation. In the truest sense of the word they are multi-layered, just like – at its best – our view of the world. Questions about existence emerge through cracks in the surface. They will not be answered. Who rules? Man? Chaos? Misha’s pictures impose nothing, they do not seek quasi-sacral absolutes. They are free from ideological utopias assembled on the bandwagon of an ephemeral topicality. Art hardly changes in the course of the world. And yet it is necessary.
Misha’s paintings are no chessboards of rational thought. They are not ciphers. They offer no speculative messages, not even a horizon as a reassuring line of our insecure experience. They call our own gaze into question, offering nothing to hold onto, no fleeting protection. They give no solace. “Never trust a picture” is one of the few statements Misha lets himself get carried away with; also, loosely following the poet Patrizia Cavalli, “be less picture-like, you pictures”. His compositions are not deceptive place-holders of identity in an unsure world. But poetic, abstract, they are as evocative as instrumental music.
Lines do not necessarily divide; they are sometimes like trickles from distant childhood days. “Expressionism is an attempt to recapture the freshness and naïveté of childish vision; it is in fact a nostalgia for the innocence of childhood,” said painter Mark Rothko. “Art is an adventure into an unknown world, which can be explored only by those willing to take the risks.” Which you could surely just as well say about life. Mikhail Evstafiev’s pictures are an invitation, for just a few minutes or more, to let one’s self in.
Translated from the German by Sonya Yee
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